Die neue Jacke

Eines Tages sollte ich eine neue Jacke bekommen. Ich weiß leider nicht mehr genau, wie alt ich damals war. Alt genug jedenfalls, um bereits alles besser zu wissen, aber Klamotten bezahlten in jedem Fall noch meine Eltern. Also fuhren Mutter und ich in die große Stadt, wie immer, wenn es etwas zu kaufen galt, das der örtliche Supermarkt nicht führte. Wer etwas Besonderes haben will, muss eben in die große Stadt.

„Der Junge ist dauernd verschnupft. So kann es nicht weitergehen.“ Ich erinnere mich, wirklich begeistert war ich von dem ganzen Projekt nicht, aber so schmerzlich diese Erkenntnis im Rückblick sein mag: Ich war halt eher ein schmollender als ein rebellischer Teenager. Einen ganzen Nachmittag schritten wir die Auslagen der Warenhäuser ab. Und die hier? Nein, sicher nicht. Schnell wurde klar, das wird nicht einfach.

Einige Jacken schieden dabei zum Glück sofort aus. Zu muffig die Farben, zu tumb die Muster, zu antiquiert die Schnitte. Eigentlich absurd, wie viele dennoch davon aushingen. Jetzt probier sie doch wenigstens mal an! Ein anderes Modell fand ich eigentlich ganz cool. Diese Jacke war aber definitiv etwas, das nur Menschen mit sehr breiten Schultern mit gutem Gefühl tragen konnten. Und ich war leider eher ein schmächtiger als ein athletischer Teenager.

„Perfekt finde ich eigentlich keine“

Schließlich fand ich doch noch was. Robuster Stoff, eigentlich das perfekte Material für eine Jacke, die Farbe passte auch. Die Ärmel allerdings waren mir leider eine Winzigkeit zu kurz, und eine Nummer größer fühlte sich das am Rumpf nicht ganz stimmig an. Auch das Innenfutter gefiel mir nicht so recht, für meinen Geschmack war es unnötig rau. (Innen ist aber auch immer schwierig.)

Mehrfach angezogen, mehrfach wieder weggehängt. Eigentlich ganz geil, aber eben leider nicht so geil, wie sie sein könnte. Leider war ich auch eher ein unentschlossener als ein entschiedener Teenager. Am Ende stehst du ratlos bei Karstadt und denkst: „Perfekt finde ich eigentlich keine.“ Trotzdem fand ich den Gedanken irgendwie überzeugend, dass es besser ist, eine Jacke zu haben als keine. Gerade, wenn es draußen kühler und ungemütlicher wird.

Und dann habe ich sie halt genommen. Wahrscheinlich, dachte ich noch auf der Rückfahrt in der Bahn, würde ich wohl ewig an den Ärmeln zupfen. Vielleicht gäbe sich das aber auch noch, sobald die klassischen Tragefalten dazukommen. In Gedanken sah ich mich auch schon mit einer Nagelschere dieses komplett überflüssige Label entfernen, dass anzubringen der Hersteller offensichtlich für eine gute Idee gehalten hatte. Das wird schon, dachte ich mir damals.

— Moment. Warum erzähle ich das? Ach ja, ich bin in die SPD eingetreten.

It’s the #Stadionwurst, stupid!

Jedes Wochenende finden in Deutschland Tausende Fußballspiele der verschiedensten Alters- und Güteklassen statt – an einem Dezemberwochenende habe ich mir drei davon angeschaut. Ein Plädoyer für den Stadionbesuch.

Eigentlich wollten wir doch nur eine Freundin besuchen. Münster anschauen, über alte Zeiten quatschen. Was man halt so macht. Bis sie die Idee präsentierte, wir könnten auch zum Preußenstadion rausfahren. Münster gegen Paderborn, Stichwort „Westfalenduell“. Das klingt erstmal nach großer Rivalität, klassisch sind allerdings die Derbys mit Arminia Bielefeld bedeutender, in jüngerer Vergangenheit auch die mit dem VfL Osnabrück.

Preußen Münster – SC Paderborn 0:1 (0:0)
Liga, 18. Spieltag
Samstag, 14:00 Uhr

FOTO Preußen Münster v SC Paderborn

Und dann steht man eben 20 Minuten vor Spielbeginn auf der etwas abgewohnten, aber immerhin überdachten Stehplatztribüne K. Das Preußenstadion ist aus den Zwanzigern, noch mit einer Laufbahn und echten Kurven. Es nieselt und aus den Lautsprechern dröhnt eingängiger Schrammelpunk, der schon beim ersten Refrain zum Mitgrölen einlädt. Auch die Wurst überzeugt („Westfalen ist Schweineland“). In anderen Worten: Es ist alles wunderbar aus der Zeit gefallen. Ein herrlicher Fußballnachmittag – bis das Spiel beginnt.

Hier trifft der 14. auf den 18. der dritten Liga und so sieht es leider auch aus. Es entwickelt sich, was aus Mangel an Torchancen gern „eine intensive Partie“ genannt wird. Viele Zweikämpfe, kaum Strafraumszenen, eigentlich ein heißer Kandidat für ein 0:0. Ich ertappe mich dabei, wie ich regelmäßig rechts hinaus zur Gästekurve schaue, neugierig, ob der Paderborner Capo mit seinem mittelblauen Megaphon wohl seine wacklige Position zwischen Zaun und Werbebande bis zum Abpfiff halten können wird.

Nach 71 Minuten fällt doch noch ein Treffer, weil sich die Gastgeber nach einem eigenen Freistoß auskontern lassen. Ein einziger langer Pass zerteilt das Zentrum, Paderborns Ben Zolinski bedient Zlatko Dedic, der ehemalige Bundesligaprofi (VfL Bochum) schiebt souverän rechts unten ein. Die Schlussoffensive der Möhlmann-Elf bleibt anschließend ohne Erfolg. Game over. Preußen Münster bedankt sich bei 7.774 Zuschauern.


HSV Barmbek-Uhlenhorst – Niendorfer TSV 2:0 n.V.
Hamburger Verbandspokal, Achtelfinale
Sonntag, 14:00 Uhr

FOTO HSV BU v Niendorf

Spiel zwei, 24 Stunden später, wieder zurück in Hamburg. Im Stadtteil Barmbek duellieren sich zwei Fünftligisten um den Einzug ins Viertelfinale des Verbandspokals. Dessen Sieger darf immerhin im Spätsommer 2017 in der ersten Runde des DFB-Pokals antreten. Gastgeber Barmbek-Uhlenhorst hat nicht nur eine bunte Vergangenheit und ein schickes neues Stadion mit Kunstrasen, sondern auch das großartigste Vereinslied der Welt. „Mein letztes Geld“ sind an diesem Tag genau sechs Euro. Dafür gibt es im Tausch immerhin 120 Minuten Fußball, die beiden Oberligisten mühen sich torlos in die Verlängerung.

Der Neubau hat nur eine einzige Tribünenseite. Wechselgesänge („Barmbek!“ – „Uhlenhorst!“) werden deshalb zwischen dem überdachten und dem nicht überdachten Teil ausgetauscht. „Ohne ‚Nien‘ wärt Ihr nur ein Dorf“ wird früh im Spiel skandiert und mit einem zufriedenen Lachen abgerundet. Es regnet immer mal wieder, die Wurst überzeugt ebenfalls.

Im direkten Vergleich mit dem Spiel am Vortag in Münster fällt schnell auf: Mit dem Ball umgehen können die Amateure auch ausnahmslos, athletisch aber halten natürlich weder die Barmbeker noch die Niendorfer mit den Profis mit. 302 zahlende Besucher sehen die entscheidende Situation nach 86 Minuten, als ein Gästespieler nach einem harten Foulspiel vom Platz fliegt. Aus meiner Perspektive hätte es Gelb auch getan, aber Zeitlupen und zusätzliche Kameraeinstellungen gibt es hier eben nicht. In der 115. und der 120. Minute fallen schließlich die beiden Treffer, die BU ins Viertelfinale bringen. Der Rest ist blau-gelber Taumel.


FC Schalke 04 – Bayer Leverkusen 0:1 (0:0)
Bundesliga, 14. Spieltag
Sonntag, 17:30 Uhr

Noch einmal 60 Minuten später, im heimischen Wohnzimmer. Sky zeigt zum Abschluss der 14. Bundesligarunde das Duell Schalke gegen Bayer. Schnell wird klar, dass es für mich fußballerisch das beste Spiel des Wochenendes sein wird. Im Vergleich zum robusten Drittligafußball und dem überwiegend sehr improvisierten Fünftligakick treffen hier zwei Europapokalteilnehmer aufeinander –  und zum Glück sieht man genau das auch. Es sind viele kleine Aktionen, die den Unterschied machen: im richtigen Moment einen Angriff abbrechen, die bessere Anschlussentscheidung finden, den Oberkörper regelmäßig so früh und sauber zwischen Ball und Gegner stellen, dass es eben kein Foul ist. Die vierte Minute einmal ausgeklammert.

Das Spiel findet früh seinen Spannungsbogen, der dann auch noch erstaunlich lange trägt. Schalke fährt in Unterzahl erfolglos Konter um Konter gegen lange ratlose Leverkusener, ehe kurz vor dem Abpfiff Stefan Kießling einen Hakan-Calhanoglu-Freistoß ins lange Eck köpft.

Jede auch nur theoretisch strittige Szene wird sofort aus den verschiedensten Winkeln aufgelöst, Sky-Kommentator Kai Dittmann liefert routiniert Namen, Zahlen und Daten wie auch erste Deutungen des Spielgeschehens. Unmittelbar nach dem Spielende gibt es Interviews mit den Protagonisten – und trotzdem fehlt etwas. Man sieht das Spiel, aber eben auch nicht viel mehr.


„Glotze aus,  Stadion an“

Was verbindet jetzt diese drei Anekdoten? Hat da tatsächlich ein Sportredakteur an seinem freien Wochenende festgestellt, dass Fußball umso hochklassiger wird, je hochklassiger die beteiligten Mannschaften spielen? Nein, unter dem Strich ist diese Sammlung einfach nur ein Plädoyer für den Stadionbesuch. Und zwar fast unabhängig davon, wer spielt und wie gut.

Weil es nun mal das beste Gefühl der Welt ist, wenn verfrorene Füße in Bus oder Bahn langsam wieder auftauen. Weil Stadionwurst besser schmeckt als alles, was man daheim im Kühlschrank hat. Immer. Weil man in Münster direkt nach dem Paderborner Führungstreffer zur Gästekurve schauen kann und sieht, dass zwar der Vorsänger noch oben steht, aber zwei andere Fans auf die Laufbahn gepurzelt sind. Offensichtlich unverletzt.

Weil in Barmbek nach dem Schlusspfiff ein kleiner Junge seinem Opa um den Hals fällt, als sei BU jetzt Weltmeister. Weil man dort direkt hinter dem Tor stehen kann, auf das der entscheidende Treffer fällt, und jedes Wort des fluchenden Niendorfer Keepers versteht. (Definitiv nicht zitierfähig.) Weil im Clubheim ein etwas zu gut gekleideter Gast seine sechs Biere mit einem 100-Euro-Schein zahlen möchte und einfach nur misstrauisch angeschaut wird. Und weil das alles schon spannendere und lebendigere Geschichten sind als einfach nur Naldos Notbremse gegen Chicharito und Kießlings Lucky Punch.

Ich kann mich nicht entscheiden, ob ich nun den rauen Fußballcharme von Münster oder den unterklassigen Pokalfight auf die Spitzenposition setzen soll, in jedem Fall aber landet das TV-Spiel im Wochenendranking nur auf Platz drei. So bequem und mundfertig es auch auf die eigene Couch gekommen sein mag, Regenjacke und dicke Socken gewinnen. Glotze aus, Stadion an, das steht auf einem Transparent in Barmbek. Besser kann man es nicht formulieren.

Ach, #Pofalla.

Der Deutungskampf um die Personalie Ronald Pofalla ist eröffnet. Einen gut dotierten Vorstandsposten soll der frühere Kanzleramtsminister also demnächst übernehmen – und von „Soll er doch!“ bis zum „Verfall politischer Sitten“ (Transparency International) sind bereits alle Positionen vertreten.

Die einen wollen dringend die Diskussion über Sperrfristen wieder befeuern, endlich angemessene Karenzzeiten für scheidende Politiker einführen. Gut und richtig – Eckart von Klaeden wäre da allerdings kürzlich das deutlich bessere focusing event gewesen.

Andere wollen generell über die Verflechtung von Politik und Wirtschaft sprechen. Über die unerträgliche Tatsache, dass unserem politischen System die Kraft fehlt, sich selbst gegen gemeinwohlschädliche Einflüsse ausreichend zu immunisieren. Knapper: dass Macht und Reichtum nun einmal „konvertierbare Währungen“[1] sind. Wenn wir aber diese überfällige Diskussion schon anlässlich der dreisten Quandt/Klatten-Großspende nicht führen wollten, warum sollten wir es ausgerechnet jetzt?

Der Kern der „Affäre Pofalla“ ist meiner Meinung nach ein anderer. Die Empörung Verwunderung ist in erster Linie deshalb so groß, weil ausgerechnet eine der größten politischen Lachnummern der jüngeren Vergangenheit nun eventuell die goldene Leiter hinaufstolpert.

„Aber er hat ja gar nichts an!“ sagte endlich ein kleines Kind. „Hört die Stimme der Unschuld!“ sagte der Vater; und der eine zischelte dem andern zu, was das Kind gesagt hatte.

„Aber er hat ja gar nichts an!“ rief zuletzt das ganze Volk. Das ergriff den Kaiser, denn das Volk schien ihm recht zu haben, aber er dachte bei sich: ‚Nun muß ich aushalten.‘ Und die Kammerherren gingen und trugen die Schleppe, die gar nicht da war. [2]

Wenn wir uns die letzten Zeilen von „Des Kaisers neue Kleider“ vor Augen führen, welche Rolle könnte in diesem Stück wohl der Herr Pofalla besonders gut spielen?

Genau, eben jenen Kammerherren („Kammerminister für besondere Aufgaben“), der ganz dicht hinter dem Herrscher trottet, sein Haupt tief gesenkt und damit stets in Nähe des kaiserlichen Hinterteils. Der auf der anschließenden PK erklärt, er habe mit Hilfe einer offiziellen Anfrage klären können, dass sein Chef eben doch (!) Kleider trug. Sehr schöne sogar.

Um es klar und deutlich zu sagen: Ich halte Ronald Pofalla nicht für so dämlich, dass er seine absurden Erklärungen in der NSA-Affäre tatsächlich geglaubt hat. (Wahrscheinlich ist der Mann am Ende sogar überhaupt nicht dämlich.) Ich halte ihn eher für einen bemitleidenswert loyalen Parteisoldaten, der für die Interessen seiner Clique sogar die offensichtlichsten Realitäten verleugnen würde. Das ist nun mal die Rolle des Kammerherren.

Dass Ronald Pofalla diese Parteilinie im Zweifel ohnehin wichtiger ist als jeder Anschein von ehrlichem Pluralismus, hat ja bereits die berühmte Auseinandersetzung mit Wolfgang Bosbach gezeigt.

Was mich also am meisten stört: dass solche Typen es irgendwie immer wieder in wirklich spannende Positionen schaffen. Welch fatales Signal an Parteimitglieder mit abweichenden Meinungen! Im Zweifel schön abnicken, dann kommst Du schon voran. Und selbst, wenn Du Dich am Ende unfassbar lächerlich machst, die „Familie“ fängt Dich schon auf.

Es ist ekelhaft.

[1] Colin Crouch, 2011. Das befremdliche Überleben des Neoliberalismus, S. 77.
[2] Hans Christian Andersen. Des Kaisers neue Kleider. http://gutenberg.spiegel.de/buch/1227/114

Rad. Ross. Rotwein.

Hobbys sind wichtig, sie helfen gegen Freizeit. Manchmal tarnen sie sich auch so geschickt, dass man sie nicht sofort als Hobbys erkennt. Es gibt Menschen, die sitzen einfach nur da. Oder sie sitzen da und trinken. Trockenen Rotwein zum Beispiel. Der hilft besonders gut gegen Freizeit. Auf die Idee, das als Hobby zu bezeichnen, kämen sie aber nicht. „Radfahren, Reiten und Trinken“, nein, so etwas würde niemand ins Poesiealbum schreiben.

Der Trinker wird kaum akzeptiert. Dabei bietet sein Hobby mehrere Vorteile. Es macht auch bei Gegenwind noch sehr viel Spaß, oder wenn die Kette kaputt ist. Man muss sich nicht ständig darum kümmern, dass die Lichtanlage funktioniert, im Gegenteil, viele suchen sogar gezielt den Schutz der Nacht. Und, besonders wichtig, man muss kein schlechtes Gewissen haben, wenn man beim Saufen keinen Helm aufsetzt. Obwohl jeder genau weiß, dass es vernünftiger wäre.

Der Fahrradfahrer ist zwar häufiger an der frischen Luft, sieht aber im direkten Vergleich trotzdem wenig Land. Der Reiter kann dem Trinker erst recht nicht das Wasser reichen. Sein Hobby ist voller Hindernisse. Er ist frustriert, wenn der Gaul lahmt, beispielsweise, weil er mit seinen absurd vielen Beinen über ein kaputtes Fahrrad gestolpert ist oder weil er zu wenig getrunken hat. Regelmäßiges Trinken hält nicht nur Pferde auf Trab, sondern auch Körper und Geist. Nur ein gut geführter Flüssigkeitshaushalt versetzt den Menschen in die Lage, komplizierte Situationen zu meistern. Ersetzt man feuchten Schweiß durch trockenen Rotwein, nimmt man sie nicht einmal als kompliziert wahr.

Radfahrer und Reiter verlassen sehr schnell die Kräfte, wenn sie nicht ausreichend trinken. Auch Trinker überkommt die Müdigkeit irgendwann, sogar völlig unabhängig davon, ob sie im Sattel sitzen oder nicht. Das kann man vielleicht nicht als Vorteil sehen, es ist aber Fakt. Etliche Menschen haben sich bei Stürzen von Rad oder Ross schwere Verletzungen zugezogen. Der Trinker genießt die Gnade der geringen Fallhöhe, oft ist er jedoch sehr müde und unkonzentriert, wenn er fällt. So gleicht sich das ein wenig aus. Schlägt sein Schädel dumpf auf den schmutzigen Kneipenboden, gibt es selten Zeugen. Zumindest keine, die sich am Tag darauf noch erinnern können, was eigentlich passiert ist. Hohn und Spott bekommt man überall, nie aber eine Erklärung. Höchstens den Ratschlag „Hättest mal besser ’nen Helm getragen.“

Auch existiert von solchen Unfällen grundsätzlich niemals Filmmaterial. Weil paradoxerweise ausgerechnet Kameramänner gerne sehr viel trinken. Ausgelaugte Kameramänner, die am Nachmittag noch einfangen mussten, wie einem Profiradfahrer bei Tempo 70 der Lenker bricht. So was will im Grunde auch keiner sehen, bei der Zeitlupe schaut man dann aber trotzdem nicht weg. Das Punktetrikot ist fort, das Schlüsselbein entzwei, der Ellbogen zersplittert. Da hilft auch kein Helm.

Reiten ist noch gefährlicher. Das wird sehr gern verdrängt, vor allem von Trinkern. Die sitzen nämlich am Sonntagnachmittag benebelt vor dem WDR und wundern sich, dass es Menschen gibt, die das Wort „Anmut“ benutzen dürfen und trotzdem dafür bezahlt werden. Pferdesport hält man nüchtern nicht aus.

Der Kommentator wird nur dann lauter, wenn ein Gaul sich verweigert. Wenn er am vorletzten Oxer panisch den Reiter abwirft, um dann aus Trotz doch noch hinterher zu springen. Meist landet das riesige Tier dann mit seinen absurd vielen Beinen genau auf dem zerbrechlichen Sportler, oft rutscht dem Trinker augenblicklich der trockene Rotwein aus der Hand und entwertet die Auslegeware. Oder er flüchtet in die winzigen Spalten des schlampig verlegten Laminatbodens und lässt ihn aufquellen wie seinen Besitzer. Dem ist das aber völlig egal. Er ist einfach nur glücklich, dass es so schöne Zeitlupen gibt. Und dass sein Hobby nicht so riskant ist.

Der Trinker ist selten ein Draufgänger, zumindest nicht objektiv. Sein Hobby gibt ihm Schutz, es ist zudem ein hervorragendes Mittel gegen Freizeit, gegen die vielen Unwägbarkeiten des Alltags, gegen das Erinnern und gegen die Altersarmut. Wahrscheinlich ist es auch der Grund dafür, dass erwachsene Menschen niemals Poesiealben haben. Schade eigentlich.